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Volksfest aus Protest! Tausende von Teilnehmern feiern ihren Unmut

17.07.2020, schausteller.de

Der Komet veröffentlichte diesen Artikel in der Ausgabe vom 10.07.2020

Mehr als 5000 Menschen aus dem Schaustellergewerbe, Zirkusunternehmen und der Freizeitbranche zum Teil in über 1.000 Fahrzeugen und viele weitere sowie Kirmesfans und Schaulustige vor der Bühne am Brandenburger Tor und an den Straßenrändern Berlins. In einem solchen Rahmen hat DSB-Präsident Albert Ritter seinen Geburtstag höchstwahrscheinlich noch nie gefeiert.

Emotionaler hätte diese Großkundgebung wohl kaum sein können. Schon eine Stunde vor dem angekündigten Beginn haben sich zahlreiche Leute am Brandenburger Tor in Berlin versammelt. Wie es sich in dieser Zeit gehört, tragen alle ihren Mund-Nase-Schutz in vielen bunten Farben – manche sogar mit dem Aufdruck: „Das Karussell muss sich weiterdrehen“. Schon am frühen Morgen wurde dort die Bühne aufgebaut, eine Orgel gebracht und Autoscooter-Chaisen sowie mehrere Riesenradgondeln aufgestellt. Auch das Schaustellerherz, welches die Herzlichkeit der Schausteller und ihrer Feste symbolisiert, ziert den Platz des 18. März. Die Polizei und jede Menge freiwilliger Helfer als Ordner achten darauf, dass alles in geregelten Bahnen läuft und auch die Mindestabstände eingehalten werden. Es herrscht eine erstaunlich gute Stimmung angesichts der schon für die meisten in dieser Branche erdrückenden Situation. „Es bringt ja nix, es ist ja unser Job, fröhliche Stimmung zu verbreiten.“ bekomme ich als Reaktion auf meine verwunderte Anmerkung zu hören. 

Die Videos am Vortag in den sozialen Medien zeigen, wie sich zahlreiche Schaustellerfamilien mit ihren Fahrzeugen auf den Weg machen, um gemeinsam am nächsten Morgen um 11 Uhr am Zentralen Festplatz als rollendes Mahnmal durch Berlin zu starten – vorbei am Bundeswirtschafts-, Bundesgesundheits- und Bundesfinanzministerium bis hin zum Brandenburger Tor. „Der Aufzug ist tatsächlich in einer Größenordnung, dass die Polizei gerade an uns herangetreten ist und gesagt hat, die Kundgebung wird um eine Stunde nach hinten geschoben“ tönt eine Durchsage durch das Mikrofon, während die Spitze des Zuges mit einem lauten Hupen eintrifft. „Jetzt ist Showtime!“ schallt es vom Festwagen Nr. 1. Unzählige Menschen am Straßenrand halten ihre Mobiltelefone in die Höhe, um dieses außerordentliche Ereignis festzuhalten. Dabei jubeln sie jedem einzelnen Fahrzeug zu, das an ihnen vorbei fährt. Es ist ihnen anzusehen, wie sehr sie dieser Moment bewegt. Bei einer jungen Frau kullern sogar die Tränen. „Darf ich Sie kurz fragen, welche Gefühle in Ihnen vorgehen?“ spreche ich sie vorsichtig an. „Es ist zwar eine extrem schwierige Situation, aber es ist so unglaublich schön zu sehen, wie stark der Zusammenhalt ist“, antwortet sie mir bereitwillig und lächelt, während sie sich das Gesicht mit einem Taschentuch trocken tupft. Auch die Teilnehmer des Zuges in ihren Wagen scheinen sichtlich beeindruckt von der Situation und die Freude steht ihnen ins Gesicht geschrieben.

Währenddessen kann man durch die gut dimensionierten Lautsprecher die Nachricht vernehmen, dass sich 32 wohlgesonnene Bundestagsabgeordnete auf der Bühne versammelt haben und einige davon ein paar Worte sagen wollen. Es folgen mehrere, sehr emotionale Reden. Sie alle betonen, wie wichtig Volksfeste sind und beteuern, sich massiv für die Branche einzusetzen.

„Ihr habt den ersten Weltkrieg überstanden und ihr habt den zweiten Weltkrieg überstanden und es darf nicht sein, dass Ihr die Corona-Krise nicht übersteht. Und deswegen gibt es auch so viele Abgeordnete, die auch an Eurer Seite stehen und die das nicht nur sagen, sondern das auch seit vielen Monaten täglich machen.“

„Wenn wir darüber reden, dass Corona dazu führen kann, dass diese Gesellschaft droht, an der einen oder anderen Stelle zu spalten, dann kann nicht nur der Fußball, sondern erst recht die Schausteller dazu beitragen, dass die Gesellschaft zusammenhält. Und deshalb müssen Sie Ihrem Beruf wieder nachkommen. Sie können es auch anders ausdrücken, dass Schausteller das günstigste und beste Antidepressiva sind in der Situation, wo wir heute sind.“

„Am Ende geht es darum, wieder eigenes Geld zu verdienen, das zu machen, wofür Ihr lebt.“

„Die Schausteller haben doch selbst ein Interesse daran, dass die Hygienestandards stimmen. Sie waren es doch, die in den letzten Wochen mit den Berufsgenossenschaften, mit den Lebensmittelkontrolleuren eng zusammengearbeitet haben. Weil sie doch selbst ein Interesse daran haben, dass wir die besten Standards haben, damit die Familien, damit die Menschen, damit die Kunden überhaupt kommen.“

„Schausteller schaffen es, selbst eine Demo in ein Volksfest zu verwandeln!“

 Mit diesen und weiteren wertschätzenden und vielversprechenden Aussagen gelingt es den Politikern, das Publikum zum Jubeln zu bringen. Einige sprechen auch von finanzieller Unterstützung.

Während um 14 Uhr das eigentliche Rahmenprogramm auf der Bühne beginnt, rollt die nicht enden wollende Fahrzeugschlange weiter vorbei. Mittlerweile wurde die Information bekannt gegeben, dass Berlin „dicht“ sei.

Die musikalischen Beiträge von Sonja Eckl-Gruber mit der Schausteller-Hymne „Leuchten“ und „Das Karussell muss sich weiterdrehen“ von Rapper Ayo runden das Programm aus mutmachenden Worten von DSB-Präsident Albert Ritter, Vizepräsident für Marketing des DSB Kevin Kratzsch und den Schaustellerseelsorgern ab und sorgen trotz hoher Temperaturen für weitere Gänsehautmomente. Als krönenden Abschluss erhält Albert Ritter ein Geburtstagsständchen besonderer Art: gesungen von Sonja Eckl-Gruber und tausenden Teilnehmern vor der Bühne. „Danke, liebe Sonja, danke euch allen. So viel Anerkennung, das gibt Kraft und Motivation, die ich mit euch teile“ äußert er an alle diejenigen, die ihren Teil zu diesem Ereignis beigetragen haben – nicht ohne noch einmal zu schlucken. Es ist ihm deutlich anzusehen wie bewegt er ist. Als er die Veranstaltung schließt, passieren noch immer zahlreiche geschmückte Lkw‘s, Kleinbusse und Traktoren das Brandenburger Tor in Richtung Siegessäule.

„Dieser Tag wird in die Geschichte eingehen“ sind sich viele ganz sicher. „Es ist unglaublich, wie viele aus ganz Deutschland hierhergekommen sind – zumal diese Veranstaltung in gerade einmal vier Tagen entstanden ist!“ betont Kevin Kratzsch in meinem Gespräch mit ihm. Nicht nur er ist voller Begeisterung. Bis sich die Menschenmenge aufgelöst hat, dauert es noch eine ganze Weile. Im Schritttempo begibt sich die lange Schlange der Schaustellerfahrzeuge auf Kurs Richtung Heimweg. „War hier was?“ fragt mich der Beifahrer grinsend aus dem Fenster eines Lkw, während ich neben ihm herlaufe. „Ich habe von allem nichts mitbekommen“ höre ich einen Tag später im Popup-Freizeitpark „Ibbiland“ in Ibbenbüren. „Es war tierisch anstrengend, außerdem wurden viele Fahrzeuge umgeleitet und kamen so gar nicht am eigentlichen Geschehen vorbei. Ein wenig enttäuschend ist das schon, wenn man extra hierfür anreist, aber man weiß ja, wofür man das tut.“ Bleibt zu hoffen, dass die Botschaft angekommen ist und die Mühen nach vielen Monaten Geduld trotz Perspektivlosigkeit und den damit verbundenen Existenzängsten Wirkung zeigen – auch wenn sich viele Schausteller sehr enttäuscht über die mangelnde Präsenz der Presse zeigen. Besonders den TV-Sendern, die bei unglücklichen Geschehnissen auf Festplätzen sehr schnell mit schaurigen Meldungen dabei sind, war es offensichtlich nicht wert, mehr als einige Sekunden über diese riesige, freundliche und fröhliche Demonstration zu berichten. Mich persönlich haben zwei Dinge jedoch ganz besonders beeindruckt: Der Zusammenhalt und eine Demo, die dank ihrer positiven Stimmung eher einer großen Feier glich!

Text und Fotos: Mara Holland-Moritz
 

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